2010 Brevet in Sachsen über 1000 km – Höhen und Tiefen
Mitte August 2010 startete die erste Langstreckenradtour Sachsens über mehr als 1000 km in der Gemeinde Bennewitz. Erlebnisse, Eindrücke und der Versuch einer Erklärung für diese Leidenschaft. Von Olaf „Theo“ Hilgers.
Nach dem 1000er Brevet traf ich bei einem Einkauf eine Bekannte aus Kindheits- und Jugendtagen, die mich nach unserer Radtour fragte. Sie hatte in der Zeitung davon gelesen und wollte von mir wissen, warum wir so lange Touren fahren. Meine Antwort: „Weil wir es wollen, weil es Spaß macht“, verstand sie nicht so recht. Das verriet ihr Gesichtsausdruck. Für uns Brevetradfahrer ist normal unnormal normal, um eins der Wortspiele von Ulf, alias Hackepeter/Meister Nadelöhr zu zitieren. Die Radtour ist nun schon lange Geschichte. Möglicherweise ist es besser mit Abstand dazu etwas zu schreiben. Meine Versuche das Erlebte auf einer sehr langen Ausfahrt zu schildern, blieben bisher immer auf der Strecke.
Nun war es das erste Brevet in meiner Verantwortung mit einer Distanz von 1.000 km. Wann, wenn nicht jetzt. Es soll keine Aufzählung der Superlative werden, weil es doch immer irgendwo irgendeinen Menschen gibt, der einen neuen Superlativ parat hat. Trotzdem gab es von Vielem genug- topografische, physische und psychische Berge und Täler, Flüsse und Seen, günstigen Wind , Impressionen, Geschichten, warme Tage und lausig kalte Nächte, gute und schlechte Straßen, Heißhunger, Essen, das schmeckt und das krasse Gegenteil. Fehlt was? Geschenkt. Wer selbst Rad fährt, kennt das alles.
Ein Blick zurück
Bevor die Story beginnt, versuche ich zu schildern, was ein Brevet ist. Entwickelt hat sich das Ganze um die Wende von 19. zum 20. Jahrhundert in Frankreich. Das Rad wurde Volksreisemittel. Nicht wenige fuhren damit weite Strecken, zum Beispiel von Paris an den Atlantik. Über diese Strecken von 600 bis zu 1200 Kilometern wurden in der Folge auch Rennen ausgetragen. Und schon erklärt sich das französische Wort Brevet: Prüfung.
Eine Prüfung waren die Rennen damals mit Sicherheit. Heute werden solche Torturen nicht mehr als Rennen ausgetragen. Für ein Brevet arbeiten Organisatoren eine Strecke über mindestens 200 km aus, und wer möchte, kann sich einer dieser Prüfungen anschließen. Das ist mittlerweile weltweit möglich. Das Organisationsniveau ist vor, während und nach der Fahrt bewusst gering. Die Straßen sind nicht abgesperrt und jeder Mitfahrer muss für sich und seine Ausrüstung unterwegs selbst sorgen. Begleitfahrzeuge sind verpönt und auch nicht gewünscht.
Zur Kontrolle, ob die Prüfung bestanden wurde, legt der Organisator Kontrollstellen fest. Dort muss sich der Randonneur, auf Deutsch etwa „der Radwanderer“, innerhalb eines Kontrollzeitraums einen Stempel als Nachweis der persönlichen Anwesenheit in die Startunterlagen eintragen lassen. Geeignet Kontrollstellen sind beispielsweise Tankstellen, die rund um die Uhr geöffnet sind.
Von Bennewitz nach Bennewitz
Ich hatte die Runde selbstverständlich so geplant, dass keine Abkürzungen möglich waren. Ab Bennewitz ging es gradewegs Richtung Süden über Grimma, Mittweida, östlich vorbei an Chemnitz und hinauf zum Kamm des Erzgebirges am Grenzübergang Raitzenhain. Dort stürzten wir uns auf einer erstklassigen Straße hinab nach Chomutov. Zatec, Pisek und Cseky Krumlov passierten wir vor der Grenze zu Österreich. Bad Leonfelden im österreichischen Mühlviertel war der südlichste Punkt unserer Ausfahrt. Ab hier fuhren wir Richtung Westen bis zum bayerischen Grenzübergang Phillipsreut.
Erneut in Tschechien war die Strecke über den Kamm des Böhmerwaldes nach Susice und ab da nach Klatovy vorgegeben. Hier hielten wir uns nordwestlich Richtung Cheb, bogen jedoch in Plana nach Westen Richtung Grenze zu Deutschland ab. Auf deutschem Gebiet ging es von nun an nördlich nach Selb. Oelsnitz, Greiz und Crimmitschau waren danach die nächsten Stationen. Das Ende kam in Sicht und damit Frohburg sowie Grimma. Damit die Runde gewertet werden konnte, mussten die Radfahrer nach 77 Stunden wieder im Startort sein.
Am Start ein bunter Haufen Radnarren
Die Kolonne mit fast 30 Verwegenen setze sich am 19. August in Bewegung: Stahlwadenbesitzer auf Stahlrahmen mit Packtaschen, Fahrer mit Minimalausrüstung auf edelster Kohlefaser, Räder von der Stange, die keinen Betrachter umhauen, gelenkt und vorangetrieben von Verwegenen, die radmäßig so schnell nichts umhaut, und ein vollgefedertes Eigenbaucarbonliegerad mit allerlei technischen Finessen samt Fahrer aus Münchens Bikeschickeria angereist.
Den ersten zwei Kontrollen flogen wir trotz einiger Kletterpassagen, die am Ende des Muldentalradweges in Grimma begannen, entgegen. Für meinen Geschmack etwas zu schnell, aber wenn es rollt lassen wir es rollen. Jeder gefahrene Kilometer ist ein guter Kilometer. Ich hatte, trotz einiger Erfahrung auf sehr langen Touren, ein paar kleine Selbstzweifel im Kopf bei dem angeschlagenen Tempo, da ich bei der 600er Runde nach 200 km kurz vor dem Auszählen war. Warum? Ich hatte das Jahr in ganzen Abschnitten mit unsportlicher Lebensweise absolviert und immer nur kurz vor einer Tour ernsthaft was auf dem Rad gemacht.
Für diese lange und anstrengende Fahrt begann ich erst Mitte Juli gezielt zu trainieren und gesund zu leben. Bis Zatec lief es für fast alle Mitstreiter gut. Ein Randonneur hatte Radprobleme und fand auf der Strecke Hilfe. An den Anstiegen nach der schnellen Kontrolle in Mittweida fanden sich die ersten Gruppen zusammen. Ab der Einfahrt in das Erzgebirge wurden die Bünde noch kleiner. Mit Martin aus Dresden reiste ich ab hier weiter – und es blieb ganz lange Zeit so.
Erste Herausforderungen
Pisek war das nächste Ziel, 178 km entfernt. Im welligen Terrain mit Rückenwind rollte es gut. Zu gut. Obwohl ich die Strecke schon zweimal abgefahren war, verfuhren wir uns zu einem ungünstigen Zeitpunkt. Bis 21 Uhr wollten wir in dem Ort Zdice sein und mussten es auch, weil die Tankstelle dort nur bis zu dieser Zeit offen hatte. Danach wäre es für lange Kilometer nicht möglich gewesen, Verpflegung zu bekommen und unsere Essens- und Trinkvorräte waren auf Null. Kurzes Palaver, das Kartenorakel im Maßstab 1 : ? im Lampenschein gedreht und gewendet. Martin fuhr zurück zum letzen und vor zum nächsten Verkehrsschild und dann ab durch die Büsche.
Mit einer kleinen, eher untypischen Renneinlage, waren wir zehn Minuten vor dem Schließen der Tankstelle da. Welch ein Labsal mit gekühlten Getränken, Weißbrot gefüllt mit „Delikatessen“ wie im Louis de Funes – Klassiker „Brust oder Keule“ und so leckeren wie billigen Eigenprodukten mit feinsten Kalorien unserer Nachbarn. Weiter. Noch war es warm und wir hatten Bock. Auf dem Weg zum kommenden Checkpoint musste die Teilnehmer eine Kontrollfrage beantworten. So konnte ich nach dem Brevet prüfen, ob alle Randonneuer diesen Ort passiert hatten. Welche Sorte eines urtschechischen Trunks bietet eine genau benannte Pension dem rastlosen Reisenden an? Für Martin und mich kein Problem – durch das Tor hereinspaziert, den Schaukasten inspiziert, dem Begleiter diktiert, in den Startunterlagen notiert, und ab die Fuhre. Für alle nach uns sah es wohl nicht so gut aus.
Einige beeinflusste das Navigationssystem -wobei hier die Schuldfrage noch ungeklärt ist- andere standen vor verschlossenem Eingangstor zur Pension. Das geht auf meine Kappe. Dass das Tor der Pension des Nächtens verschlossen wird, hätte ich mir denken müssen. So gibt es wenigstens was zu erzählen und erinnern. Der Ort, in dem die Antwort auf die Kontrollfrage gesucht werden musste, liegt an der Moldau in einer sehr schönen Ferienregion. Am Tag begegnet man Radfahrern, sieht Wanderer und unzählige Wassersportler auf dem Fluss.
Pisek, der Ort der nächsten Stempelstelle, kam näher und eine Tankstelle mit einer lächelnden jungen Frau am Tresen. Die Tankstelle war offen, trotz der mitternächtlichen Stunde. Welch eine Wohltat, zu warmem Kakao und Kaffee auf bequemen Polstern etwas zu essen.
Der Mond ist aufgegangen
Wir zierten uns etwas, ins Freie zu gehen. Mittlerweile war es ganz ordentlich frisch. Durch die menschenleere Stadt und raus aufs Land. Die Weltkulturerbestadt Cesky Krumlov mit der Zwischenstation Prachatice war das nächste Ziel. Irgendwann meldete sich die Müdigkeit und der strahlende Sternenhimmel bescherte Temperaturen deutlich unter 10 °C. Trotzdem war die Fahrt in dieser Nacht schön, weil wir die Straße fast für uns alleine hatten. Die Ruhe, klare Luft und das Surren der Räder machen eine Nachtfahrt zu einem besonderen Erlebnis.
Wie genau nimmt man in diesen Nächten die Umgebung wahr? Jedes Knacken im Wald, ein Käuzchen ruft, einen Windhauch, die kleinen Temperaturunterschiede, der intensive Geruch des Waldes und abgeernteter Felder, jede Fährte eines Duftes und die widerliche Süße eines Powergels, wenn es einem in den Sinn kommt, diese Sinnlosigkeit zu benutzen. O.K., ich gebe zu, dass davon auch etwas in meinen Trikotaschen war. Zwei oder drei dieser Umweltverschmutzer hatten schon 2009 England mit mir bereist. Trotzdem musste ich meinem Mitstreiter Martin hier und da ein Gespräch aufdrängeln. Die Sehnsucht meiner Augen nach Ruhe konnte ich damit bekämpfen und ich hoffte, ihm damit auch einen Gefallen gegen die Müdigkeit getan zu haben.
Wie immer auf diesen Strecken stellt sich vor dem Start die Frage: Was wird Bagage und was bleibt im Depot? Ein richtiger Rucksack kommt für mich nicht in Frage. Das ist uncool. Was für mich schlimmer ist, ist der irgendwann einsetzende Druck am Rücken. Beinlinge und ein paar dünne Handschuhe hätte ich noch verstauen können. Ohne diese Utensilien war in der ersten Nacht an den Extremitäten Gänsehautfeeling angesagt. So blieb die Hoffnung auf einen Morgen mit strahlender Sonne.
Auf der Sonnenseite
Rast in der schönen alten Stadt an einer unromantischen Tankstelle im Morgendunst, raus in die frühe, kleinstädtische Rushhour Cesky Krumlovs. Sehr ansehnlich ist die wunderschöne und perfekt erhaltene mittelalterliche Altstadt. Diesen Genuss heben wir uns für eine andere Reise auf. Das Moldautal sanft hinauf führte der Weg in Richtung Österreich. Entlang des tschechischen Nationalflusses reihten sich einige Ferien- und Kanulager. Es war ein idyllischer Anblick diese kleinen Zeltstädte am ruhigen Fluss zu sehen. Randonneure nach uns erlebten dann Scharen von Kindern auf dem Fluss bei bestem Wetter. Leider tat sich die erhoffte Morgensonne schwer, den Dunst aus dem Tal zu vertreiben. Unsere Blicke erahnten die Burg über Rozmberg Nad Vltavou im Morgennebel.
Bad Leonfelden in Österreich mussten wir erreichen, um den vierten Kontrollstempel zu erhalten. Der Anstieg bis dahin war nicht ohne, zumal wir so kurz vor dem Stopp keinen Halt für einen Kleiderwechsel einlegen wollten, obwohl die Sonne nun am klaren Himmel stand. Völlig durchgeschwitzt fanden wir auf dem Markt ein Café mit sonnigem Freisitz. Meine Vorstellungen bester K & K Kaffeehauskultur erfüllten sich. Wir zwei Radfahrer entsprachen sicher nicht den typischen Gästen dieses Etablissements. Wohlig räkelten wir uns unparfümiert und mit Rändern um die Augen in der Sonne. Vorher hatten wir natürlich noch unsere Sachen zum Trocknen an Stühlen und einer kleinen Hecke aufgehangen. Nach etwa 24 Stunden hatten wir fast die Hälfte der Strecke hinter uns gebracht und waren recht zufrieden.
Minutenweise Bergwertungen
Die kommende Kontrolle in Selb war 355 km entfernt und das Terrain dahin fordernd. Bis Susice am Nordrand des Böhmerwaldes erwartete uns nun ein ständiges Auf und Ab. Für zwei Stunden bereisten wir das nördliche Mühlviertel in Österreich. Die Fahrt führte nach Westen immer unterhalb des Grenzkamms zu Tschechien. Es rollte nach der Pause außerordentlich gut über die Hügel. Im Mühlviertel sind die Höfe in die satten Wiesen eingebettet und am Straßenrand wird für gebirgstypische, deftige Spezialitäten geworben. Die Strecke profilierte sich immer mehr und wurde auf dem Abstecher ins Bayerische zu einem kleinen Härtetest. Bei ordentlicher Hitze und harten Anstiegen kämpften wir uns weiter bis zum Grenzübergang nach Tschechien an der B 12.
Wegen der langen Distanz nach Selb hatte ich eine Kontrollsektion ab Susice eingerichtet. Außerdem wollte ich von jedem Starter einen Kontrollstempel des Grenzübergangs sehen. An einer Wechselstube/Tankstelle besorgten Martin und ich uns diesen selbstverständlich auch. Mit etwas Verpflegung und neuem Elan verließen wir den Kamm des Böhmerwaldes, um uns ab Horni Vltavice zum höchsten Punkt der Tour zu bewegen. Auf dem Weg dahin mussten wir jedoch alle Scheußlichkeiten dieser Grenzregion passieren – „Schoppingcenter“ (genau so geschrieben), Damen mit unzweideutigen Angeboten, den Club „Pussycat“ mit einer vorgelagerten Armee aus Gartenzwergen die wohl auf eine Mitfahrgelegenheit warten, wobei ich hier ein Massaker als Erlösung bevorzugen würde.
Umso schöner war die Auffahrt nach Horska Kvilda. Wenig Autoverkehr auf einer gleichmäßig ansteigenden Straße im Wald bei besten Temperaturen. Hier und da überholten wir ein paar Ausflugsradler oder uns kam ein Rennradfahrer mit straffem Tempo entgegen. Martin war ganz angetan von der schönen Auffahrt, da er größere Strapazen erwartet hatte. Umso radikaler ging es vom Kamm nach Susice bergab. Wir vernichteten ganz schnell 700 Höhenmeter. Die Straße auf der Nordseite des Böhmerwaldes ist in einem miserablen Zustand. Diese Schussfahrt forderte uns und die Räder enorm. Wie stark die Belastung war, konnte ich auf dem Freisitz des Hotels „Fialka“ auf dem von früherer Bedeutung kündenden Markt Susices feststellen.
Bei mir ist eine Speiche locker
Eine Speiche im Systemlaufrad war locker. Mensch, das ist doch fast wie im wahren Leben. Da hat man auch ständig das Gefühl, dass Speichen im Laufrad des Systems locker sind. Die Parallele kann fortgesetzt werden, weil ich mir in beiden Fällen nicht so sicher war und bin, ob sich das Rad bis nach Hause weiterdreht. Gottseidank merkte ich den Schaden an meinem Rad erst bei der Abfahrt vom Hotel. Bestimmt hätte mir der köstliche Palatschinken nicht so geschmeckt und an Entspannung wäre, genau wie an eine Selbstinstandsetzung, nicht zu denken gewesen. Also Bremse auf um Platz für die „Achte“ zu schaffen und sachte durch die Stadt geeiert. Plötzlich ein Ruf Martin`s hinter mir. „Stopp! Halt mal an, hier ist ein Radladen.“ Den hatte ich übersehen, da ich viel zu sehr mit meinen Gedanken über ein vorzeitiges Ende der Tour beschäftigt war. Ich war doch der Einzige der gestarteten Randonneure, der wusste was uns noch erwartet.
Also rein da und den Chef mit einem „Dobry Djen“ begrüßt. Das erfreute ihn und ich begann mein Problem, begleitet von einem Mischmasch aus Tschechisch, Deutsch und Englisch, zu zeigen. Der Meister machte sich an die Arbeit und nach einer Weile war alles „dobry“, also gut. Ich war saufroh und ließ es ihn mit meinem Obolus wissen. Susice ist ein sehr touristischer Ort und hervorragend als Ausgangspunkt für Touren zu Fuß, mit dem Mountainbike oder Rennrad und mit dem Kanu geeignet. Außerdem künden viele Bauwerke in der Stadt und Umgebung von einer langen Besiedlung und der Bedeutung für die Region. Mit Radfreunden war ich bereits vor einigen Jahren mehrmals Anfang Mai in der Region. Zu diesen Zeitpunkten ist es möglich, Stunden im Wald zu verbringen und keinem Menschen zu begegnen. Abends bietet der Ort dann kleinstädtische Amusements, also Disco, Kneipen und einige passable Restaurants. Ein kleines Museum gibt es auf dem Marktplatz.
To(u)rturen
Wir radelten weiter in Richtung Klatovy. Weit kamen wir nicht, da mein Mitstreiter den Vorschlag machte, in der milden Abendsonne etwas zu schlafen. Das war eine gute Idee. Wir legten uns auf einer kleinen Wiese hin. So stellt man sich das Radonnieren vor. Die kommenden Kilometer waren unschön, da der Asphalt abgefräst war und ich noch kein richtiges Zutrauen zu meinem frisch reparierten Hinterrad hatte. Wir bunkerten in Klatovy Trinken und Essen, soviel in unsere Behältnisse passte. Unter Umständen hätten diese Vorräte für bis zu zwölf Stunden reichen müssen. Ich nehme für solche Fälle einen extrem kleinen und leichten Rucksack mit. Dieser ist trotz dünner Träger aus Nylonstoff und null Tragekomfort ausreichend. Ich bemerkte, dass ich seit Zdice noch ein tolles Baguette im Gyrosstyle spazieren fuhr.
Fast 16 Stunden besaß ich es nun. Mitsamt einer Cola verabschiedete ich es in meine Eingeweide. Bei Vorhaben dieser Art ist es günstig, mit einem robusten Verdauungstrakt und einer ernährungstechnisch niedrigen Hemmschwelle gesegnet zu sein. Nur leider ist es in der Realität dann so, dass bei den meisten Fahrern auf so langen Touren, irgendeine körperliche Schwachstelle zu Tage tritt. Die bekanntesten davon sind Sitzbeschwerden, Knieprobleme, Hals- und Schulterleiden, Randerscheinungen wie Fußschmerzen, Verdauungsstörungen, Probleme mit den Atemwegen, beim Schlucken sowie Ermüdungserscheinungen an den Händen und Schultern runden die Auswahl an der individuellen Leiden ab. Das Schlafproblem möchte ich nicht zu sehr ausbreiten. Macht mal mit und findet es selbst heraus. Es lohnt sich wirklich sehr.
Licht im Dunkeln
Für die Nachtwanderungsausrüstung war es in Klatovy noch zu zeitig. Also rollten wir weiter durch das westliche Becken bei Pilsen. Die Landschaft ist nicht so anmutig in dieser Gegend. Ebenso verhält es sich mit den Orten. Geprägt von Landwirtschaft ist diese Gegend – wir sahen und rochen es einige Male. Irgendwann mussten wir doch anhalten, um Licht zu installieren und wärmere Sachen anzuziehen. Die Nacht war jedoch unvergleichlich milder als die vorangegangene. Wie froh war ich, meine Entscheidung zwischen Navi oder einer passablen Beleuchtung in Richtung Lampe gelenkt zu haben. Vor längerer Zeit las ich einen Artikel über die erstklassigen Leuchtdiodenlampen. Diese sollen angeblich einen Lichtkanal in die Dunkelheit fräsen.
Das tat nun eins dieser rundum genialen Teile aus der Oberpfalz an meinem Rad. Abfahrten wurden von Martin und mir selbst bei tiefer Finsternis mit höchster Geschwindigkeit bewältigt. Wir passierten die riesige Klosteranlage von Kladruby und rasteten auf Treppenstufen in Stribro. In größeren Orten war in den Pivnicen (einfachen Bierkneipen) noch Begängnis. Wer Tschechien besucht, sollte hier mal ein Bier trinken gehen. Der klassische Kellner mit weißem Hemd, schwarzer Hose und Weste ist immer auf dem Sprung mit einem frischen Halben, sobald das alte Bier zur Neige geht.
Holter die Polter
Vor Plana gab es in dunkler Nacht noch eine Herausforderung. Aus dem Nichts stürzt sich die Straße steil hinab, um unvermittelt in ruppiges, zerfahrenes Kopfsteinpflaster überzugehen. Ab der Talsohle geht es nahezu zwei auf diesem Straßenbelag Kilometer bergan. Für Martin war diese Passage ein Fluch. Zwar ist wenig Gewicht für einen Radfahrer eher günstig, aber wenn das Pflaster holprig ist, dann kommt das Rad unter einem Leichtgewicht-Fahrer ins Hin- und Her hüpfen. So wird es zum unfreiwilligen Flummiball unter dem Hintern. Dank dieser Umstände bekam Martin trotz seines Top-Trainingszustandes keine rechte Kraft auf das Hinterrad und damit nicht so gut den Anstieg hinauf. Ab Plana waren es bis zur Grenze nach Deutschland noch etwa 20 moderate Kilometer.
Natürlich liegt die Grenze auf dem Kamm des Oberpfälzer Waldes. Vor dem verlassenen ehemaligen Kontrollposten ist in einem kleinen Ort noch eine Tankstelle. Ich war bei meiner Streckenplanung davon ausgegangen, dass diese nicht 24 Stunden offen hat. Umso erfreuter waren wir zwei, als uns dort die Türen offen standen. Wir kauften uns etwas Nervennahrung und ich mir ein Paar strahlend weiße Stoffhandschuhe gegen die Nachtkühle für 75 Cent. So gewappnet hielten wir Einzug in Deutschland. Doch leider interessierte das in dieser Nacht und dieser Gegend hinter viel, viel mehr als sieben Hügeln keinen einzigen Menschen.
Jede Menge dieser radtechnisch gesehen hässlichen Hügel mussten wir bis Selb ohne Zuschauer bezwingen. Da kann ich nun nur für mich reden: Ich weiß nicht ganz genau, wie ich jede Abfahrt hinunter und jeden Berg hinauf gefahren bin, ich bin mir auch sicher, manchmal Dinge am Straßenrand gesehen zu haben, die gar nicht da waren. Um nicht einzuschlafen, stopfte ich mir immer etwas in den Mund, spielte mit dem Telefon herum und versuchte mit Atemtechnik wach zu bleiben.
Im Krankenhaus
Das Klinikum der Stadt Selb war als Kontrolle ausgeschrieben, weil auch im Fichtelgebirge des Nächtens die Bürgersteige hochgeklappt werden. Die Türen waren offen. Das war im ganzen Objekt so und erstaunte uns, da wir früh um Fünf auf der Suche nach einem Stempel unbehelligt in mehrere Räume gelangten. Klack, klack, klack -Wegen den Radschuhen geschah das auch nicht geräuschlos. Dem Personal der Klinik bereitete das scheinbar keine Sorgen. Minuten später hatten wir den Stempel auf unserer Kontrollkarte und konnten an den Tischen der Kantine schlafen.
So richtig zur Ruhe kamen wir aber nicht. Nach fast zwei Stunden Krankenhausaufenthalt suchten wir uns einen Bäcker im Ort. Kaffee, Herzhaftes und Süßes lieferten Treibstoff, um die letzten 200 km unter die Räder zu nehmen. Das größere Übel war es, nach der Pause den Sattel unter den Allerwertesten zu nehmen. Durch die Ruhephase konnten nun die Blessuren an diesem auf sich aufmerksam machen. Mit Vorsicht und legalen Hilfsmitteln wie Vaseline und etwas zusätzlicher Polsterung, passte sich diese sensible Schnittstelle Sattel – Hintern aneinander an.
Über Rehau schlugen wir den Weg nach Oelsnitz ein. Der Tag schien sehr warm zu werden. Um der Morgenkühle zu entkommen, hat jeder eine Strategie. Wir versuchten mit eifrigem Treten unseren Kreislauf in Wallung zu bringen. Reptilien legen sich auf den warmen Asphalt und damit in den sicheren Tod. Eine Blindschleiche musste ich retten, obwohl nicht feststellbar war ob sie noch lebte – cars are coffins!
Leiden in Sachsen
Im ehemaligen Grenzgebiet wuchs unsere Reisegruppe um einen Randonneur an. Michael aus Chemnitz war seit längerem allein unterwegs und hatte bei den Pausen nicht so viel Zeit wie wir vertrödelt. Natürlich tauschten wir gleich unsere Erlebnisse aus und fuhren zusammen in lockerem Abstand weiter. Leider wurde kurz nach der Einreise in Sachsen das Fahren etwas beschwerlich. Bis zu diesem Zeitpunkt war die Reise auf guten Straßen und fast baustellenfrei verlaufen. Jetzt mussten wir innerhalb weniger Kilometer vier Baustellen passieren. Grandios war dafür der Blick auf die Göltzschtalbrücke bei Mylau.
Bis Greiz folgten wir der Göltzsch abwärts. Sehr schade ist, dass diese bucklige Straße nicht der schönen Landschaft ebenbürtig ist. Mittlerweile war es ein sehr heißer Tag geworden. Wir mussten in Greiz, der Perle des Vogtlandes, eine Rast einlegen, um uns mit Getränken zu versorgen. Die folgenden Kilometer wurden eine Strapaze. Hässliche Hügel auf abgenutzten Pflasterstraßen stellten sich uns in den Weg. Wir litten leise oder auch mal laut vor uns hin. Es ist ein gewaltiger Unterschied, ob eine schlechte Straße nach 200, 300 Kilometern oder nach 900 Kilometern auf dem Rad befahren wird.
Die Belastungsprobe war auch für das Gemüt ein echter Test. Hoffnungsvoll dachte ich bei jedem Stoß und Schlag an mein Hinterrad, dass es die restlichen Kilometer ganz bleibt. Ab Crimmitschau bewegten wir uns nun auf bekanntem Terrain. Die Route folgt ab hier in Teilen vorherigen Brevets über 400 und 600 km. Über Gößnitz führte die Tour nach Langenleuba. Wir drei mussten auf diesem Abschnitt ein Stück der stark befahrenen B 93 bewältigten. Durch einen rücksichtslosen LKW-Fahrer mit Sattelauflieger wäre der Spaß für mich um ein Haar zu Ende gewesen, da dieser Dumme (Mensch lasse ich mal weg) bei Gegenverkehr überholen musste. Was geht in so einem Kopf nicht den normalen Gang? Die Aufregung über so viel Rücksichtslosigkeit ist schlimmer als der Schreck an sich.
Frohburg kam nun langsam in Sicht und somit auch ein absehbares Ende unseres Wochenendausflugs. Bevor wir uns dort einen weiteren Stempel holen konnten, musste ich mich bei meinen Mitfahrern für den Abstecher nach Kohren -Sahlis rechtfertigen. Die Vorwürfe, extra wegen der kleinen giftigen Hügel diese Route gewählt zu haben, parierte ich mit dem Hinweis auf den schönen Töpferbrunnen im Ort und die gute Straße durch einen schönen Buchenwald.
Wiedersehen in Frohburg
An der Tankstelle in Frohburg begrüßte uns der Chef mit freudigem Hallo. Wir hatten uns bei vorhergehenden Stopps immer gut unterhalten. Außerdem ist diese Station eine Ausnahme in der deutschen Tankstellenlandschaft. Es gibt keinen Nachtschalter. Der Reisende oder örtliche Spätkäufer kann rund um die Uhr eintreten – und das ist ganz schön lässig von dem Chef. Nun hatten wir noch etwa zwei Stunden Fahrt durch heimatliche Gefilde vor uns. Die Hügel wurden ganz sanft und die Spannung in uns ließ etwas nach.
Grimma passierten wir westlich auf wenig befahrenen Straßen. Unsere Konversation beschränkte sich nur auf die Navigation. So nahe vor dem Ende eines sehr langen Brevet lässt man das Ganze noch einmal im Zeitraffer vorbeilaufen, man hört noch einmal in sich hinein, freut sich, dass Mensch und Maschine so lange funktioniert haben, freut sich auf eine Dusche und etwas Leckeres zu essen und, dass man nach dem Essen nicht auf das Rad steigen muss.
Geschafft
Den Endpunkt dieses Brevet erreichten wir nach deutlich mehr als zwei Tagen. Welche Wohltat war die Dusche. Wie angenehm war es für alle Ankommenden, sich danach in den Garten zu setzen und zu essen, zu trinken und etwas schwatzen oder zu schlafen. Ich hatte Schlafgelegenheiten eingerichtet und wer mochte, konnte sein Zelt aufstellen. Bis zur Schlusszeit kamen nahezu alle Gestarteten an. Alle Mitfahrer waren trotz der Härte der Route sehr zufrieden und begeistert. Leider beendete nicht jeder Randonneur die Fahrt am Zielort mit einer vollständig ausgefüllten Kontrollkarte.
Einige Teilnehmer mussten die Tour abbrechen. Es ist an dieser Stelle jedoch bemerkenswert, dass keiner dieser Randonneure sehr enttäuscht oder frustriert war. Alle hatten bis zum Zeitpunkt des unfreiwilligen Endes ihrer Fahrt Spaß gehabt und die Ausfahrt genossen. Das macht trotz der Anreise und mitunter beschwerlichen Rückreise echten Randonneursgeist aus. Und alle sind am Sonntag oder Montag danach gesund zu Hause angekommen. Für mich als Organisator ist das ein wichtiges Detail.
Warum wir uns 1000 Kilometer Radfahren antun
Abschließend muss ich sagen, dass es ein schönes kleines Abenteuer war – falls es so etwas in Mitteleuropa noch gibt, und versuchen die Frage zu beantworten: Warum macht Ihr das?
Jeder Randonneur wird Beweggründe haben, sich diesen Strapazen auszusetzen. Ich bin mir aber sicher, dass er es nicht als Strapaze wahrnimmt. Ist es die Liebe zum Radfahren und dem Rad? Ist es ein Versuch etwas Ungebundenheit in das Leben zu bringen? Geht es für den Einzelnen darum die eigenen Grenzen zu erkunden? Was denkt man während der ganzen Zeit, ist eine häufige Frage Außenstehender. Die Antwort ist so schön wie einfach – nichts.
Das das nicht geht ist uns klar. Übersetzt heißt es, ich kann mich nicht erinnern, an was ich alles gedacht habe. Noch präziser wird es mit dem Ausspruch eines Nomaden. Dieser wartete monatelang in der Monotonie der Wüste Nordafrikas auf die Rückkehr seiner Karawane: „Ich denke an das, was ich sehe.“